Maria-Charlotte Weiß – v. Restorff 

 

Für Lieschen

 

Abschied und Willkommen

 

 


Maria 1944 im Rakower Saal

 

Ein hektischer Morgen Ende April.

Das Telefon läutet besonders schrill:

Die Nachbarn fahren bereits heute Mittag,

Treffpunkt Scharbeutz, Schleswig-Holstein, am Dritt-Tag.

 

Danach ein Packen, ein Rennen und Räumen,

Kleid über Kleidchen mit Schmuck in den Säumen.

Die Nähmaschine – das Radiogerät –

Verzweifeltes Suchen – „Margretchen?!“ – zu spät!

 
 

 


Das Tor in Rakow 1945

Ein trauriger Rundblick: Zum letzten Mal

Grüße vom Park durch die Fenster im Saal.

Ein Schreck – ein Geräusch an der Seitentür:

Zwei Fremde im Kopftuch. – Was suchen die hier?!

 

Hinaus aus dem Haus – die Stufen hinab –

Hinein in den Wagen – und schon geht es ab!

Schnell über den Hof, zum Tor hinaus –

Die Einhorne grüßen. – Ein Traum ist aus.

 

Wohl winken die Menschen, vor Zukunftsangst leis’,

Im Gedächtnis bleibt einzig Lieschen in Weiß.

Ein letztes Gespräch mit Tränen im Blick:

„Wir sind ganz bestimmt recht bald wieder zurück!“

 

Zum Dorf hinaus – Richtung Pepelow –

Am Schulhaus vorbei nach Irgendwo.

Heimatlos, schutzlos gen Süden, dann Westen,

„Die Russen sind nah! – Zur Trave am besten!“

 

Die Kutsche mit Kindern, zwei Ackerwagen,

Das Teppichdach drüber von Latten getragen.

Die Wagen gezogen von Pferden, die treu

Ihre Arbeit wie immer tun, ganz ohne Scheu.

 

Chausseebäume fliegen am Fenster vorbei.

Eine Stadt liegt in Trümmern, fast alles entzwei.

Übernachtung bei Freunden. Dann wieder Getrappel.

Ein Tieffliegerangriff – Schutz unter der Pappel. 

 


Blick aus dem Fenster Richtung Haff

 


"Lieschen in Weiß"  im Park von Rakow (Mitte)

 

Das Essen vom Feuer am Straßenrand,

Der Hafer für Pferde aus Säcken am Band.

Nach holp’riger Fahrt von zwei Tagen Dauer:

Der Eintopf in Kannen am Landauer – sauer!

 

Die Travebrücke – hinüber – gesprengt!

Die Türme von Lübeck. Die Sonne sengt.

Fürs erste gerettet. Ein Ende der Not?

Erstaunen der Kinder: Ovales Brot!

 

Zwölf Wochen Sommer am Timmendorf-Strand.

‚Kap Arkona’ – Entsetzen! – Die Leichen im Sand.

Kriegsende und Umbruch, Deutschland vier Zonen.

Die bange Frage: Wo wird man wohnen?

 

Anfang August wieder Aufbruch. Der Treck,

Von Pferden gezogen, in Richtung Einbeck.

Für drei Frauen, den Jungen: zwei Wochen Gefahr;

Für drei Kinder Chausseefreiheit – wunderbar!

 

Charlotte v. Restorff mit den Kindern 1947 in Einbeck


Pepelow .... und endlich dort Rakow

In Einbeck als Flüchtlinge, Enge und Not,

Kein Geld, keine Arbeit, ,Schiebewurst’ auf dem Brot.

Nach drei Jahren Zone dann ‚Bundesrepublik’:

Vierzig D-Mark für jeden zum Start in das Glück.

 

Danach vierzig Jahre lang Zweistaatlichkeit.

Der ‚Eiserne Vorhang’ bringt Kummer und Leid.

Hier Freiheit und Wahlen – dort ‚Volksdemokratie’.

Sozialismus – Realismus? – Nein! Utopie!

 

Nach vierzig Jahr’n drüben Revolution!

Gewaltlose, friedliche Demonstration.

Am Anfang die Rufe: „Das Volk sind wir! –

Freiheit jetzt, oder wir bleiben nicht hier!“

 

Tausende schweigende Menschen mit Kerzen,

Plakate mit Wortwitz, politischen Scherzen.

Die Mauer fällt! Deutsches Freudenfest!

Berlin strömt in Freiheit von Ost nach West.

 

Und endlich, endlich – nach so langem Träumen

Über die Grenze! Ein Tunnel von Bäumen

Die Straße von damals durchs Mecklenburg-Land.

Zu zweit nun im Auto zum heimischen Strand.

 

Grev’smühlen, Klein-Strömkendorf, Pepelow –

Die Schule von damals – und endlich dort   R a k o w !

Ganz kurz nur zu seh’n: Aus dem Park hervor

Grüßt das Vaterhaus, ockergelb. – Parken am Tor. 


 


"Parken am Tor"

 


Das Gutshaus ist ein HO-Laden


Rüdiger und Lieschen beim HO-Laden 1990

Westdeutsche Fahnen! Die Linden! Hinaus!

Ställe verstellen den Blick auf das Haus.

Außen herum – die Stufen hinauf –

In die Diele hinein... Da stockt der Lauf:

 

Fahl fällt das Licht durch drei Fenster im Saal

Auf ‚Konsum’-Artikel im Holzregal.

Vereinzelte Tüten, ein einsames Brot,

Getränkekästen in gelb, blau und rot.

 

Verängstigt gefragt in den Lattenverschlag.

„Fotos verboten! Warum auch?“ die Frag’.

„Ich bin von hier. Ich komme zurück.“

„Wer sünd sie denn?“ – Lieschen! Tränen im Blick.

 

Wiedersehnsfreude! Umarmung! Das Glück!

Die Heimat! Die Sprache! Welch’ güt’ges Geschick!

Die Bilder von damals. Erzählen. Der Park ...

Die Bäume ... der Teich: heut’ Gerümpelsarg.

 

Am dritten Oktober vereinigtes Land!

Vom Monde zurück der Heimatstrand!

Die Zukunft wird heilen in Gottes Hand

Auch diesen Teil herrliches Vaterland!

 


 

 


Maria mit Lieschen im Park 1990

 

 

Wir waren Anfang Juni – kurz vor der Wirtschafts- und Währungsunion – für wenige Stunden in Rakow und trafen dort im ehemaligen Saal, zu der Zeit der Rakower HO-Laden, Lieschen. 

Sonthofen im Allgäu, 26. August 1990

 

Lieschen 1994, Familientreffen in Schwerin, Bus-Rundfahrt nach Radegast, Rosenhagen, Friedhof Neubukow, Rakow.
Der Bus hält vor Lieschens Haus am Ausgang von Rakow.

 

Lieschen 1994 mit Rosi und Benita, drei Rakowerinnen, vor Lieschens Haus am Ausgang von Rakow.
Lieschens Grabstätte auf dem Friedhof Neubukow, Beerdigung Anfang Oktober 2002.
Sie starb wenige Tage vor ihrem 81. Geburtstag.
Hans-Peter, Brigitte, Rüdiger und ich waren zur Beerdigung in Neubukow und trafen dort auf dem Friedhof Walter und Grete Stage, mit denen wir seitdem in engem Kontakt sind.
Walter wuchs in Rakow auf und ging noch ein Jahr mit Hans-Peter in Pepelow zur Schule.
Grete kam mit ihrer Familie als Flüchtlinge aus Ungarn. Die Familie wurde im Rakower Gutshaus einquartiert und bekam dort das Schlafzimmer unserer Mutter zugewiesen. 

 

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